Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Ein neues Jahr steht vor der Tür. Für viele ein Moment des Innehaltens, des Reflektierens und des Sich-gute-Vorsätze-fassens. Doch das Projekt, das Leben in neue Bahnen zu lenken, gerät oftmals in Schieflage. Wohl darum, weil wir versuchen das Leben zu ändern anstelle das Ändern zu leben?
Weniger Stress. Mehr Zeit für die Familie. Eine gesündere Ernährungsweise. Weniger Alkohol trinken. Mehr Sport treiben. Mit dem Rauchen aufhören. Der Start in ein neues Jahr soll gut genutzt sein, mit wohlgemeinten Vorsätzen für ein gesünderes, sinnerfüllenderes oder glücklicheres Leben. Leider scheitern die Meisten mit ihren Absichten, bevor die ersten Schneeglöckchen den Frühling ankündigen.
Keine Disziplin? Kein Durchhaltevermögen? Einfach der falsche Zeitpunkt? Mitnichten! Vielmehr treiben wir bereits viel zu lange auf unseren breit ausgebauten Autobahnen dahin, folgen dem Sog der Alltagsroutine, und wissen gar nicht mehr, wie wir das Lenkrad nach links oder rechts zu drehen haben, um eine Ausfahrt Richtung Neuland zu nehmen. Von Autobahnen spricht der Neurobiologe Gerald Hütter, wenn er Nervenzellverschaltungen in unserem Gehirn meint, die immer wieder für die gleiche Weise für die gleichen Zwecke benutzt werden. Mit den „Autobahnen“ in unserem Kopf, seien wir zwar bei der Wahrnehmung bestimmter Dinge und bei der Lösung bestimmter Aufgaben immer besser und immer effizienter, würden aber kläglich versagen, wenn es plötzlich darauf ankomme, etwas anderes wahrzunehmen, etwas anderes zu denken oder etwas anderes zu tun als bisher, meint Hütter. Heisst: Nicht unsere Willensschwäche ist Schuld an den gescheiterten Neujahrsvorsätzen, sondern unsere zu breit geratenen Autobahnen.
Wer vermeiden will, dass in seinem Gehirn nur wenige, dafür sehr breite Autobahnen entstehen, die dann die gesamte Wahrnehmung, das Fühlen, das Denken und das Handeln bestimmen, der müsse versuchen, sein Gehirn umfassender zu nutzen, lautet entsprechend der Rat des Neurobiologen. Bevor wir also unser Leben in neue Bahnen lenken können, müssen wir erst langsam damit beginnen die Programmierungen aufzulösen. Im Bild von Gerald Hütter gesprochen: Lassen wir uns versuchen immer mal wieder die Autobahn zu verlassen, für eine Pause auf einem Rastplatz oder für einen Abstecher aufs Lande.
Anstelle eines Neujahrvorsatzes könnte stattdessen eine „Neuland-Liste“ uns ins Jahr 2018 begleiten: Bei Besuch ein neues Gericht versuchen. Den Arbeitsplatz vor dem Erledigen aller Aufgaben verlassen. Einen Tag in Stille verbringen. Auch bei stürmischem Wetter einen Spaziergang geniessen. Ein Gedicht auswendig lernen. Ein Atem-Seminar besuchen. Ein Bilderbuch für Kinder lesen. Eine SMS erst drei Tage später beantworten. Den Sonntagszopf selber backen. Das Autoradio auf leise drehen. Anstelle eines simplen „Guten Tags“ ein Gespräch mit dem Nachbarn führen. Einen Fastentag einlegen. Ein Bild malen. Eine politisch anders orientierte Zeitschrift lesen. Die eigene Meinung gegen eine Mehrheit vertreten. Stricken lernen. Eine Oper besuchen. Eine Nacht durchtanzen. Eine Kurzgeschichte schreiben. Und so weiter und so fort. Und so begeben wir uns Schritt um Schritt auf Abwegen, nähern uns Schritt um Schritt Rainer Maria Rilkes so treffend formulierter Weisheit: „Du musst Dein Ändern leben.“
Wer sich nun scheucht und noch zaudert, ob den zahlreichen Abstechern von der Autobahn Richtung Neuland, dem sei zum Schluss das wunderbare Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse mit auf den Weg gegeben:
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In and`re, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt, und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf` um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
(Bildercredits: curavida.ch, unsplash.com)