Was uns der Tod fürs Leben lernt
Ein Gespräch mit Ethiker und Theologe Thomas Gröbly über den Tod und das Leben. Thomas Gröbly hielt Abschiedsfeiern, bis er 2016 die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gestellt bekam.
Die aktuellen Zeiten und der Umgang der Politik und der Gesellschaft mit dem Corona-Virus luden geradezu ein, für die Zeitung einen Artikel über die Auseinandersetzung mit dem Tod zu schreiben. Als wunderbarer Gesprächspartner stand mir, Lea, Thomas Gröbly Red und Antwort. Das Interview behandelt zwar die Themen Sterben, Tod und Trauer, ist jedoch ein Plädoyer für das Leben. Dafür, jeden Moment zu geniessen, nichts zu verschieben oder zu vertagen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Denn das Leben findet im Jetzt statt, genau in diesem Moment.
Herr Gröbly, welche Beziehung haben Sie zum Tod?
Ich lebe gerne und stehe für den Schutz allen Lebens ein. Trotzdem begleitet mich die Endlichkeit schon lange. Nach meinem Studium der Theologie habe ich mich selbständig gemacht und Abschiedsfeiern für Menschen gehalten, die eine Alternative zur kirchlichen Beerdigung wünschten. Jede Feier war eine riesige Herausforderung und konfrontierte mich mit meinem eigenen Tod. Ich zog daraus die Erkenntnis, dass Leben, Krankheit und Sterben unverfügbar sind, und versuche, den Blick aufs Schöne und Gelingende zu richten.
Dann kam die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose.
Die Diagnose war ein Schock. ALS gilt als unheilbar. Es ist eine degenerative Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems, wobei sich die Muskelsubstanz an Armen und Beinen, am Sprech-, Kau- und Schluckapparat kontinuierlich zurückbildet. Mir wurde noch drei bis fünf Jahre Lebenszeit gegeben.
Hat Ihnen Ihr beruflicher Werdegang dabei geholfen, die Diagnose anzunehmen?
Der Tod ist mir nicht fremd. Dennoch war und ist die Krankheit ein Einschnitt. Ich war passionierter Läufer und absolvierte pro Woche rund 20 Kilometer. Doch ich sehe die Krankheit nicht als mein Ende, definiere sie nicht als unheilbar. Die intensive homöopathische Behandlung hat mir soweit geholfen, dass ich bis heute ohne Rollstuhl leben kann. Manchmal ist es hart, aber ich versuche, die Situation so wie sie ist zu akzeptieren und jeden Tag zu geniessen. Nun lebe ich bereits im siebten Jahr mit ALS.
Wird man mit dem eigenen Tod konfrontiert, kommt oft das Gefühl auf, im Leben etwas verpasst zu haben. So auch bei Ihnen?
Ohne religiösen Glauben, ohne Jenseits, fehlt ein Ewigkeitswissen und alles muss in dieses Leben gezwängt werden. In einer Welt, wo so vieles möglich ist, verpassen wir immer etwas. Dank meiner frühen Auseinandersetzung mit dem Tod begleitet mich das Lebenskonzept Carpe Diem – jeden Tag dankbar annehmen und geniessen – schon eine Weile. Als weisser Mann mit einer guten Ausbildung führe ich ein privilegiertes Leben. Ich konnte viele schöne Projekte realisieren, wie etwa das Schreiben meiner Bücher. Ich kenne dieses Gefühl, etwas verpasst zu haben, versuche aber, dankbar zu sein für das, was möglich war und ist.
In Zeiten von Corona scheint in der Gesellschaft eine grosse Todesangst zu herrschen. Wie erleben Sie das?
Krankheit und Tod können schrecklich sein und sind selten passend. Sie reissen alle Beteiligten aus den gewohnten Bahnen und verändern radikal die Beziehungen. Dennoch ist das Sterben Teil unseres Lebens. Wir leben aber in einer Gesellschaft, die den Tod negiert und verdrängt. Für die Medizin ist Sterben ein Versagen. So gehört der Tod nicht mehr in unseren Alltag: Die Menschen sterben in Pflegeheimen, wir sehen keinen Sarg in den Strassen, der Friedhof liegt irgendwo am Waldrand und der Abschied findet im engen Familienkreis statt. Dadurch fehlt uns mehr und mehr eine Kultur des Sterbens, des Todes und des Trauerns.
Warum darf der Tod nicht mehr sein?
Der Tod ist ein Geheimnis, die grosse Verunsicherung in unserem Leben. Dieses Gefühl des totalen Ausgeliefertseins steht im Widerspruch zu den vorherrschenden Denk- und Glaubenssystemen von Kontrolle, Sicherheit und Machbarkeit. Zudem führt uns der Tod unsere ganz persönliche Endlichkeit – ohne Wenn und Aber – vor Augen. Wir leben jedoch in einer Welt, die ganz kapitalistisch «Wachstum» nur äusserlich im Sinne von «grösser – schneller – mehr» definiert. Sterben ist in diesem Sinne «wirtschaftsfeindlich» und widerspricht dieser Steigerungslogik.
Was ist die Folge davon?
Angst, die wir versuchen zu kompensieren, mit Konsum, mit dem Abschliessen von Versicherungen, mit dem Einrichten von Sicherheitssystemen. Paradoxerweise hilft das nicht gegen die Angst, sondern vergrössert sie eher noch.
Was wirkt dem entgegen?
Die Angst vor dem Tod werden wir wohl nie ganz los, das macht auch nichts. Aber sie sollte nicht lähmen. Ich behaupte kühn, dass die Abwesenheit einer «Präsenz von Endlichkeit» blockiert und unserem Leben Tiefe und Intensität nimmt. Wir verschieben und vertagen, leben im Gestern und Morgen, aber das Heute verliert an Bedeutung. Es braucht kein Ringen mehr darum, was wesentlich und unwesentlich ist.
Wie gehen Sie mit dem Gedanken an den eigenen Tod um?
Auch wenn ich heute keine Angst habe, kann ich nicht voraussagen, wie ich fühlen werde, wenn der Tod an meine Türe klopft. Mir hilft die Vorstellung, dass ich als Geistwesen in einen anderen, mir unbekannten Aggregatszustand wechsle. Vielleicht ist es auch ein Nichts. Ich gehe neugierig damit um und schreibe Gedichte. Dabei spiele ich mit der Sprache und versuche, das Unaussprechliche in Worten auszurücken – auch mit einer Prise Humor. Daneben gibt es Phasen der Trauer. Trauer hat nichts mit Angst zu tun, sondern ist ein Weg, sich mit dem Verlust auseinanderzusetzen.
Was kann zudem helfen?
Wie wir uns mit unserem eigenen Tod auseinandersetzen, ist sehr individuell. Jede und jeder sollte den ganz eigenen Weg finden. Sicher hilft es, darüber zu reden, zu lesen, sich auszutauschen, zu meditieren und spirituell aufzubrechen. Ein Spaziergang in der Natur, wo der Kreislauf des Werdens und Vergehens so präsent ist, lässt mich immer wieder staunen und Vertrauen schöpfen. Die Natur zeigt mir, dass ich Teil eines grossen Ganzen bin. Ich kann mich nicht selbst zeugen, keinen Apfelbaum zum Wachsen bringen oder keinem Kind das Leben schenken. Ich kann höchstens die Bedingungen dafür schaffen. Ob dann Leben entsteht, liegt nicht mehr in meiner Hand. Diese Lebensenergie, einige nennen sie Gott, ist unverfügbar und im Tod gehe ich wieder in diese Energie über. Wenn ich das ernst nehmen, freue ich mich und vertraue darauf, dass nach meinem Tod das Leben weitergeht. Der nächste Frühling wird kommen.
Anmerkungen:
Wer sich für den neusten Gedichtband «Dazwischen» von Thomas Gröbly interessiert, der kann diesen direkt beim Autor unter www.ethik-labor.ch beziehen oder im Buchhandel kaufen.